Seit Monaten finden wir uns immer wieder am Wohnzimmertisch ein, meine Tochter und ich, bewohnen jede eine Tischseite. Zum Essen notwendige Utensilien bleiben liegen neben Handy, Tablet, Ladegeräten, ungeöffneten Briefen von Spendenerbittern oder der Krankenkasse. Auf der Bank am Tisch stapeln sich ausgemusterte Gegenstände, die ich gerade bei ebay Kleinanzeigen zu verkaufen versuche. Ein Glockenspiel, ein altes Tablet…
Statt dass wir in unseren eigenen Zimmern sitzen, wo sie ihre Staffelei, Farben und Pinsel hat, ich meinen Schreibtisch mit Computer drunter und Boxen obendrauf – aber wir jeweils allein wären, finden wir uns lieber zusammen, machen beide unser Ding und gucken uns gelegentlich über den Rand unserer Devices an, reglos, sorgenvoll oder lächelnd oder auch nicht.
Perspektiven entwickeln
Hin und wieder entstehen Gespräche. „Und? Was ist heute so dein Plan?“ – „Och, weiß noch nicht. Nichts besonderes.“
Wenn es sein muss, planen wir, was es abends zu Essen geben soll. Immer wieder diskutieren wir darüber, was Corona in unserem Leben anrichtet. Genauer gesagt die Maßnahmen der Regierung(en). Ich versuche mindestens einmal täglich sie zu ermutigen. Dass der Lockdown irgendwann vorbei sein und das Leben sich wieder normalisieren wird.
Die Perspektive ist für junge Menschen, die das Abi hinter sich und eine weitere Ausbildung vor sich haben, gelinde gesagt schwierig. Beratungsgespräche zur Wahl eines Studiums sind unter Lockdown-Bedingungen (online oder telefonisch) noch mühsamer als ohnehin schon. Ihr großer Traum war seit Jahren nach dem Abi erst einmal auf große Reise zu gehen. Südostasien, Neuseeland, Südamerika. Corona hatte schon das Abi selbst versaut, alles drum herum und danach erst recht.
Meinen Rat die großen Ziele einfach erstmal ruhen zu lassen und mit kleineren näher liegenden anzufangen hat sie letzten Herbst gern aufgegriffen und ist durch Portugal, Spanien und auf die Kanaren gereist – exakt so abgepasst, dass sie vor der zweiten Welle in Spanien nach Hause zurück kam, wo sie eines Abends überraschend vor der Gartentür stand. Drei Monate ist sie unterwegs gewesen und hat tolle Sachen erlebt, Traumlandschaften gesehen und liebenswerte Menschen kennengelernt.
Seit ihrer Rückkehr ist der Wohnzimmertisch Planungszentrum für alle neuen Aktionen. Sie hat sich schnell und zielsicher einen Job bei Rewe besorgt, wo sie täglich ein paar Stunden Regale einräumt. Das gibt ihrem Tag ein wenig Struktur und bringt ein bisschen Geld ein.
Etwas Sinnvolles finden
Oft und aufwühlend haben wir beraten und gestritten, ob es nicht auch möglich sein müsste, sinnvolle Perspektiven für die nächste Zeit zu entwickeln. Nicht nur auf die nächste Reisemöglichkeit zu warten, sondern sich irgendwo zu engagieren, zu informieren wenigstens oder etwas auszuprobieren. Sie hat sich daraufhin nach Praktikumsmöglichkeiten umgeschaut, sich mit viel Aufwand beworben, aber letztlich nur Ablehnungen bekommen. Praktika können unter Lockdown-Bedingungen vielleicht auch nicht sinnvoll funktionieren.
Wie wäre es sich stattdessen irgendwo in der Welt für soziale oder ökologische Projekte zu engagieren? Haben Sie das schon einmal probiert? Tatsächlich ist das viel schwieriger, als man denkt. Zumindest ohne Ausbildung. Die meisten Angebote in dieser Richtung erwarten von den Volunteers, dass die jungen Leute selbst dafür zahlen, dass sie arbeiten dürfen. 2 Wochen arbeiten dürfen = 2000 €. Nicht Lohn, sondern Kosten. Abgesehen von der Frage, wer wohl so viel Idealismus (oder äh…?) aufbringt, frage ich mich, wer letztlich daran verdient.
Mir selbst hatte ich auch erträumt, reisen zu können: Städtetouren zu machen wenigstens, eigentlich aber auch erneut Expeditionen nach Vietnam, Cuba oder in die USA zu unternehmen. Stattdessen mache ich seit einem Jahr vor allem Spaziergänge. An guten Tagen bis zu 15 Kilometer. Der Hund wirkt oft schon ganz gestresst, weil ich schon wieder mit ihm raus will. Und ist stets aufs Neue froh, wenn ich wieder am Tisch sitze, in mein Tablet starre oder über dessen Rand blinzele, den Instagram-Feed durchwische oder die Tochter frage, welche Serie sie gerade binget.
Nachrichten und dann?
Nachrichten ertragen wir beide nicht mehr, vor allem nicht die schon viel zu lange ewig gleichen Wasserstandsmeldungen der tagesschau. Oder die mahnend erhobenen Zeigefinger von Virologen oder Regierungsfuzzis. Es geht nicht darum, dass wir coronamüde sind (wer ist das nicht!), sondern darum, dass die meiste „Berichterstattung“ sehr einseitig immer dieselben Zahlen präsentiert, die fast nie in Relation zu „normalen“ Krankheits- und Sterbezahlen gesetzt werden. Das Land, die Welt im permanenten Krisenmodus. Und es geht natürlich darum, dass den zuständigen Organen seit Monaten nichts Neues mehr einfällt und sie ihre ohnehin schon armseligen Pläne nicht umgesetzt bekommen, sondern sich in Skandale verwickeln. Das wäre für sich schon Thema für eine ganze Serie von Blog-Artikeln.
Abends glotzen wir neben Serien (düster, verstörend und mit anschwellender Spannung) gern die Satireshows, die offenbar in der Pandemie die Aufgabe seriöser Berichterstattung übernommen haben – und auf die letztlich dieselben Kriterien wie auf die Serien zutreffen. Insbesondere der eigentlich ewig gestrige Sender ZDF hat da ein paar Formate entwickelt, von denen sich Tagesschau und Konsorten mal ne ordentliche Scheibe abschneiden sollten. Was wären wir ohne die Anstalt, heute-show oder ZDF-Magazin Royal?!
Spätestens am späten Vormittag des folgenden Tages sitzen wir dann wieder am Wohnzimmertisch.
So vergeht Tag um Tag und es ist uns längst klar, der Lockdown bleibt fürwahr immerdar.